Sturmflut 1872 - Wat geiht mi dat an?
Vor 150 Jahren, am 12./13. November 1872, ereignete sich die heftigste je an der Ostsee gemessene Sturmflut. Ihr höchster gemessener Scheitelwasserstand betrug etwa 3,3 m über Normalnull. Die Sturmflut traf die südwestliche Küste der Ostsee von Dänemark, Schleswig-Holstein bis Mecklenburg und Vorpommern. Bei eisigen Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt mit andauernden Schnee-, Schneeregen- und Hagelschauern kamen 271 Menschen um, Tausende Häuser und Hunderte Schiffe wurden zerstört, mehr als 10.000 Nutz- und Haustiere ertranken.
Warum die Sturmflut heute noch ein Thema sein sollte und speziell für den heutigen Küstenschutz Relevanz hat, erklärt im EUCC-D Interview Dr. Jacobus Hofstede - Stellv. Referatsleiter Küstenschutz, Hochwasserschutz und Häfen, Bundesbeauftragter für den Wasserbau, Ministerium für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur des Landes Schleswig-Holstein.
1. Warum ist die Sturmflut von 1872 heute noch ein Thema für den Küstenschutz?
Bei der Sturmflut von 1872 redet man gerne von einem sogenannten Jahrtausendereignis. Für die meisten Menschen bedeutet dies so etwas wie: „In meiner Zeit wird es nicht passieren.“ Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in diesem Winter eintritt, extrem gering, aber eben nicht null. Darüber hinaus wird die Wahrscheinlichkeit mit verstärkt steigendem Meeresspiegel in Zukunft zunehmen. Für das sogenannte „Weiter-Wie-Bisher-Szenario“ des IPCC (SSP5-8.5) wird ein Meeresspiegelanstieg von 1,3 m von 2020 bis 2150 projiziert. In nur fünf Generationen würde das Jahrtausendereignis von 1872 dann statistisch etwa alle 10 bis 20 Jahre eintreten. Deshalb müssen Küstenschutz, aber auch Raumordnung und Katastrophenschutz im Sinne eines ganzheitlichen Küstenrisikomanagements, Vorsorge vor einer solchen Sturmflut treffen. Die Rolle und Verantwortung jedes Einzelnen wird dabei zunehmen. Denn Deiche alleine werden in Zukunft bei stark steigendem Meeresspiegel vermutlich nicht reichen.
2. Was haben wir aus dem Jahrtausendereignis gelernt?
Meine Einschätzung ist, viel und wenig. Unmittelbar nach der Katastrophe erlies der preußische Staat eine Verordnung für ein Deichbauprogramm. In der Verordnung waren bereits zukunftsweisende Vorgaben für den Bau enthalten. Zum Beispiel gab es die Vorgabe, die Deiche nicht unmittelbar hinter dem Strand sondern ausreichend landwärts von Dünen und Strandwällen zu bauen. Das Deichvorland sollte als Pufferzone für Sturmfluterosion und als Brecherzone für die Sturmwellen dienen. Bis 1882 wurden in Schleswig-Holstein insgesamt 70 km Seedeiche neu errichtet. Viele davon wurden wegen konkurrierender Nutzungen im Hinterland unmittelbar hinter dem Strand errichtet. Weiterhin wurden sie aus Kostengründen deutlich niedriger als in der Verordnung vorgesehen gebaut. Das heißt, bereits in den ersten Jahren nach der Katastrophe ließ die anfängliche Priorität des Schutzes nach. Im Ergebnis hätte keiner der Deiche der Sturmflut von 1872 standgehalten. Seit der Übernahme durch das Land werden die Deiche nunmehr sukzessive zu Klimadeichen verstärkt. Das Konzept Klimadeich ist im neuen Generalplan Küstenschutz des Landes Schleswig-Holstein beschrieben. Es kann diskutiert werden, ob die nachlassende Priorität auf menschliche Fähigkeiten hindeutet, schlechte Erfahrungen zu vergessen und Gefahren weg zu wägen, insbesondere wenn eine scheinbare Möglichkeit darin besteht, Einkommen oder andere kurzfristige Vorteile zu schaffen. Laut der Forschungsarbeit von Hallin et al. stellt das kollektive Vergessen von Katastrophen eine Bedrohung für eine robuste Hochwasserrisikoanalyse und eine nachhaltige Stadtplanung dar. Dies verdeutlicht die Relevanz einer Sensibilisierung der betroffenen Bevölkerung und deren politischen Vertretungen für die Risiken von Sturmfluten, insbesondere auch im Hinblick auf künftig stark steigende Meeresspiegel (Hofstede & Hamann 2022). Weiterhin betont dies die Notwendigkeit einer restriktiven Raumplanung, die weiter steigende Schadenspotenziale in den nicht ausreichend geschützten Küstenniederungen vermeidet.
3. Treten Sturmfluten durch den Klimawandel häufiger/stärker auf?
Nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft ist durch den Klimawandel an den deutschen Küsten nicht mit einer signifikanten Änderung bzw. Ab- oder Zunahme der Sturmtätigkeit und damit der Sturmfluten zu rechnen. Durch den stärkeren Anstieg des mittleren Meeresspiegels werden sich allerdings automatisch auch die Sturmflutwasserstände erhöhen, da diese auf den mittleren Wasserstand aufsetzen. Das heißt, wenn der mittlere Meeresspiegel um einen Meter ansteigt, werden auch die Sturmfluten um einen Meter höher auflaufen. Schwere Sturmfluten wie zuletzt in Januar 2017 und Januar 2019 werden entsprechend häufiger eintreten (siehe auch Frage 1).
4. Inwieweit sind unsere Küsten vor Sturmfluten geschützt?
In Schleswig-Holstein werden gut die Hälfte der 315 km2 potenziell überflutungsgefährdeten Küstenniederungen durch 71 km Landesschutzdeiche (die ehemaligen Preußischen Seedeiche) ausreichend vor Sturmfluten geschützt. Etwa 47 km Regionaldeiche, 7 km Dämme und 21 km sonstige Hochwasserschutzanlagen wie Mauern schützen weitere 74 km2 Küstenniederungen. Schließlich verfügen etwa 76 km2 Küstenniederungen, zu denen naturgemäß die Strände aber zum Beispiel auch Teile von Küstenstädten wie Lübeck, Flensburg und Eckernförde gehören, über keinen Küstenhochwasserschutz. In diesen Städten finden aktuell Überlegungen zum Küstenhochwasserschutz statt, in Eckernförde wird bereits geplant.
5. Was muss die Küstenbevölkerung wissen bzw. wie kann man sich vor Hochwasser schützen?
Nach der Ahrtal-Katastrophe in 2021 hat die Landesregierung in Schleswig-Holstein ein umfassendes Programm zur Optimierung des Katastrophenschutzes auf den Weg gebracht. Im Bereich der Wasserwirtschaft wurde das Projekt WasserMan gestartet. Es zielt auf eine bessere Information, Beratung und Warnung von Kommunen, Verbänden und Privatpersonen bei Wassergefahren wie Starkregen, Binnenhochwasser und Sturmfluten ab. Das erste Produkt von WasserMan ist eine Broschüre: Sturmflut – wat geiht mi dat an?. Sie wurde unmittelbar nach dem 150. Jahrestag der Ostseesturmflut 1872 als Postwurfsendung an alle Haushalte in den potenziell überflutungsgefährdeten Küstenniederungen in Schleswig-Holstein verteilt. In der Broschüre werden, neben allgemeinen Informationen zum Küstenschutz, insbesondere Tipps zur privaten Vorsorge und Hinweise zum richtigen Verhalten bei Sturmfluten, von der Vorbereitung bis zur Evakuierung, gegeben. Die Broschüre ist auch online erhältlich oder kann bestellt werden.
Zur Erinnerung an die Ostseesturmflut 1872 hat die Landesregierung Schleswig-Holstein darüber hinaus einen Internetauftritt freigeschaltet. Der Auftritt beinhaltet folgende Themen: (1) Wetter und Wasserstände der Ostseesturmflut 1872, (2) Auswirkungen der Ostseesturmflut 1872, (3) Augenzeugenberichte über die Ostseesturmflut 1872, (4) Küstenschutz und Katastrophenschutz heute, und (5) Broschüren, Ausstellungen, Literatur und weiterführende Links zur Sturmflut 1872.
Weiterführende Literatur/ Links:
Generalplan Küstenschutz des Landes Schleswig-Holstein: https://www.schleswig-holstein.de/DE/fachinhalte/K/kuestenschutz/generalplanKuestenschutz.html
Hallin, C. et al. (2021): comparative study of the effects of the 1872 storm and coastal flood risk management in Denmark, Germany, and Sweden. Water, 13, 1697. https://doi.org/10.3390/w13121697.
Hofstede, J.L.A. & M. Hamann (2022): The 1872 catastrophic storm surge at the Baltic Sea coast of Schleswig-Holstein; lessons learned? Die Küste, 92 (Online First). https://izw.baw.de/publikationen/die-kueste/0/K92_01_Hofstede_Hamann_lessons_learned_A.pdf
Broschüre "Sturmflut – wat geiht mi dat an?"
Internetportal Ostseesturmflut 1872: www.schleswig-holstein.de/Ostseesturmflut1872